Liegeglatze, Lagerungskissen und co. – Muss das sein?

Immer wieder gibt es diese gutgemeinten Ratschläge: “Du musst das Baby auch mal auf den Bauch legen, das trainiert den Rücken und der Kopf bleibt schön rund.” Die empfohlene Lage für Säuglinge ändert sich wohl genauso regelmäßig wie das perfekte Alter zur Beikosteinführung. Früher noch sollte jedes Baby auf dem Bauch schlafen. Heute ist das längt Out. Immerhin begründet. Denn mittlerweile weiß man, dass die Bauchlage im Schlaf ein Risikofaktor für den plötzlichen Kindstod (kurz: SIDS Sudden Infant Death Syndrome) ist. Das heißt im Umkehrschluss natürlich aber nicht, dass jedes Kind, das auf dem Bauch liegt im Schlaf verstirbt. Seit 1991 wird die Rückenlage als Schlafposition für Babies von deutschen Kinderärzten empfohlen. Seitdem sind die Zahlen rückläufig. 1991 waren es noch knapp 1300 Fälle pro Jahr, 2002 waren es 367 und im Jahr 2010 nur noch 164. Bleibt zu hoffen, dass bald kein Kind mehr betroffen ist. Aber wie ist es nun mit der Lage des Babies im wachen Zustand? Muss ein Säugling wirklich regelmäßig auf den Bauch gelegt werden? Geht man nach Emmi Pikler und der freien Bewegungsentwicklung, sollte ein Kind nicht in eine Position gebracht werden, die es selbst noch nicht einnehmen kann. Das bedeutet, das Kind muss erst selbst erlernen, sich hinzusetzen, bevor es von den Eltern hingesetzt wird. Für das Laufen lernen gilt das Gleiche. Ein Kind sollte nicht auf die Füße gestellt werden und an den Händen geführt laufen, wenn es diese Bewegungen noch nicht selbst vollbringen kann. Grund hierfür ist, dass die Muskulatur noch nicht stark genug ist. Ohne stützenden Halt der Muskeln, können die Gelenke geschädigt werden. Heißt das nun also, mein Kind liegt so lange auf dem Rücken, bis es sich von selbst auf den Bauch drehen kann? Ist denn die Rückenlage überhaupt die physiologische Haltung für unsere Säuglinge Ein kleiner Exkurs in die Welt der Säugetiere: Es gibt 3 Arten von Säugetieren. Die Nesthocker, z.B. Mäuse werden recht unfertig geboren. Da sie blind und kaum fortbewegungsfähig sind, bleiben sie zum Schutz die erste Zeit im Nest. Die Nestflüchter, z.B. Fohlen sind deutlich weiter entwickelt bei Geburt. Ihre Sinnesorgane und der Bewegungsapparat sind funktionsfähig, so dass sie kurz nach der Geburt der Mutter folgen können. Die Traglinge, z.B. die Affen haben bei Geburt funktionsfähige Sinnesorgane, jedoch können sie sich noch nicht selbst fortbewegen. Sie können sich aber an der Mutter festklammern. Wir Menschen lassen unsere Neugeborenen nicht im Nest allein liegen, sie können sich aber auch noch nicht wenige Stunden nach der Geburt auf ihre Beine stellen und mitlaufen. Also tragen wir unsere Kinder! Man geht davon aus, dass der Greif- und Mororeflex unserer Kinder noch aus früheren Zeiten mit mehr Körperbehaarung stammt. So konnte sich das Neugeborene an einem Erwachsenen festhalten. Die Greiffunktion unserer Füße ist durch den aufrechten Gang nahezu verloren gegangen und nur noch ansatzweise in der ersten Zeit nach Geburt erkennbar. Auch die Beinchen werden angezogen und angewinkelt (Anhock-Spreizhaltung), um sich an Mamas Hüfte festzuklammern. Unsere Menschenkinder sind also Traglinge. (Quelle: „Ein Baby will getragen sein“ Evelin Kirkilionis, Kösel-Verlag, 2013, München) Unser Fell ist in den letzten Jahrtausenden verlorenen gegangen. Aber dafür gibt es heutzutage ja schicke Tücher und Tragehilfen. Schaut man sich den Körperbau eines Neugeborenen an, fällt auf, dass ein Baby perfekt an das Getragen werden angepasst ist. Die Wirbelsäule ist noch leicht gerundet, erst später, wenn das Kind sitzen und laufen lernt, erhält sie ihre typische Doppel-S-Form. Das Becken ist nach vorne gekippt und die Beine sind in O-Bein-Stellung. Die Hüfte ist noch physiologisch unreif und der Hüftkopf fügt sich am besten in die Hüftpfanne ein, wenn die Beine stark angehockt sind. Perfekt ums sich in Anhock-Spreizhaltung am Körper des Erwachsenen festzuhalten. Beim Laufen überträgt sich jede Bewegung des Tragenden auf die Hüftgelenke des Babies und fördert dadurch die Durchblutung. So kann sich die Hüfte deutlich besser entwickeln als bei Fixierung z.B. mit einer Spreizhose oder durch breites Wickeln. (Wichtig: hierbei geht es nicht um Hüftdysplasie!) So gesehen ist ein Baby also überhaupt nicht dafür gemacht, um in Rückenlage auf einer festen Unterlage zu liegen. Was ist aber mit der Bauchlage? In immer mehr Kreißsälen wird mit Bonding direkt nach der Geburt geworben, und das ist gut so! Denn ein Neugeborenes, das gesund zur Welt kommt, gehört direkt auf den Bauch der Mutter. Hier kann es gleich beweisen, wie kompetent das kleine Wesen schon ist. Dank funktionierender Sinnesorgane kann es die dunkel gefärbte Mamille gut sehen, riechen und auch fühlen. Neusten Forschungen zufolge erhöht sich die Temperatur der Brustwarze und des Vorhofs der Mutter nach Geburt, die Temperatur der Lippen des Babies sinkt. So ergibt sich ein Temperaturunterschied von ca 2 Grad, der dem Baby dabei helfen kann, den Weg zur Nahrung zu finden. (Link zur Studie ) Bauch an Bauch mit der Mama fängt das Neugeborene an den Kopf hin und her zu bewegen und wie ein Specht auf und ab. Es robbt sich in Richtung Brust und kann sich selbstständig andocken, wenn es die Mamille gefunden hat. Intuitives Stillen nennt man das. Unter normalen Umständen ist jedes Baby direkt nach Geburt dazu in der Lage. Die Bauchlage auf dem Körper der Mutter scheint also hier die optimale Position für das Kind. Aus der Rückenlage käme das Neugeborene nicht selbstständig an die Brust und würde ohne fremde Hilfe nicht trinken können. Wieso kommt es dann, dass kleine Babies abgelegt oder sogar geschoben werden? Der Kinderwagen in seiner heutigen Benutzungsweise hat seinen Ursprung im frühen 19. Jahrhundert. Der Stubenwagen aus der Wohnung wurde mit 3 Rädern versehen, so dass man ihn fortbewegen konnte. Anfangs sah man darin nur sitzende Kinder. In 1880 wurde das erste Modell mit Liegewanne gebaut. Seitdem hat sich viel getan. 6 Jahre später wurde auch das Automobil erfunden und Säuglinge wurden auch hiermit transportiert. Es dauerte aber noch bis 1993 bis die Autositzpflicht in der Straßenverkehrsordnung aufgenommen wurde. Mittlerweile ist es in unserer Gesellschaft ganz normal geworden, dass Babies in Kinderwägen oder Autoschalen liegen. Doch das hat Folgen für die Bewegungsentwicklung. Beobachtungen zeigen, dass getragene Kinder aus unterschiedlichen afrikanischen Kulturkreisen deutlich früher ihren Kopf halten können und westlichen Kindern in der motorischen Entwicklung voraus sind. Um die motorische Entwicklung unserer westlichen Babies bestmöglich zu fördern, entwickeln sogenannte Expertengruppen dann immer wieder neue Empfehlungen. Da es nun normal scheint, dass ein Säugling im Kinderwagen auf dem Rücken liegt, wird propagiert ihn eine gewisse Zeit am Tag wach auf den Bauch zu legen. Das trainiere den Rücken und den Nacken. Auch schimpfende oder weinende Babies sollen motiviert werden, durchzuhalten. Eine andere Entwicklung sind jegliche Hilfsmittel, die erst mit dem Ablegen des Babies nötig wurden. So findet man in gut sortierten Babyfachgeschäften sämtliche Arten von Lagerungsmatratzen /-kissen, die platten Hinterköpfen, Liegeglatze und co vorbeugen sollen. Sogar Helme sind mit dabei. Doch all das ist gar nicht nötig, wenn mit einem Baby artgerecht umgegangen wird. Nachts auf den Rücken, für Autofahrten in die Babyschale und für Erledigungen gern auch mal in den Kinderwagen, das ist klar. Doch sonst muss ein Baby nicht eine gewisse Zeit am Tag in einer bestimmten Position trainieren seinen Kopf zu heben und zu halten und es muss auch nicht auf spezielle Kissen gebettet werden, wenn es einfach so oft wie möglich am Körper der Eltern getragen wird. Hierbei stärkt sich die Muskulatur ganz automatisch. Ein gutes Tragetuch gibt aber gleichzeitig genug Halt und überfordert das Kind nicht. Und das Schönste dabei: Es stärkt auch die Eltern-Kind-Bindung!